Facecination Sebastian Bieniek

ÜBER DEN KÜNSTLER SEBASTIAN BIENIEK (aus dem Katalog anlässlich der Ausstellung "Facination" in Madrid/2015)

Kalle von Karl, 2015, über Sebastian Bieniek

Das menschliche Auge ist ein Durchgang für Licht. Der Grossteil von dem was wir sehen ist dazu da, das Licht zu streuen und wieder zu bündeln.

Alles was wir sehen ist eine Mischung aus reflektiertem Licht, das unser Hirn auf den Kopf stehend serviert bekommt und sich dann etwas zusammenmixt, mit dem es etwas anfangen kann. Mit dem es arbeiten und sich als ein Ganzes fühlen und Ganzes wahrnehmen kann. Das Visuelle ist dem Menschen so wie auch vielen Tieren so wichtig, dass das bloße Sehen eines Auges zu dem Gefühl führen kann, beobachtet zu werden, gemeint zu sein. Der Anblick des Ohres beispielsweise hätte niemals die gleiche Durchschlagskraft. Dabei macht es keinen allzu grossen Unterschied ob es sich um ein richtiges Auge handelt oder nicht. Tiere ahmen Augen nach, sogar noch grösser als sie wirklich in der Natur vorkommen, um sich stark zu fühlen, um andere zu beeindrucken oder abzuschrecken. Wir alle kennen das aus zahlreichen Tierdokumentationen und lächeln vielleicht darüber. Doch auch uns kriegt die Werbung, belästigt uns gar. Mit immer mehr auf uns gerichteten Blicken egal aus welcher Perspektive sieht uns das Model der Kleiderhersteller, die Kuh der Milchproduzenten, das Kind das besonders gerne diese Kekse ißt an und fordert uns auf zurückzuschauen.

Wir sind unruhig geworden durch das ständige Gefühl beobachtet zu werden. Dieses Gefühl ist kaum auszuschalten, wie wir aus der U-Bahn wissen. Selbst mit vielen Menschen im Zug fällt es auf, wenn man beobachtet wird und man selbst spürt dass das eigene Beobachten einen Widerhall findet. Man könnte von einer Blickverschmutzung reden.


Die Produkte blicken immer mehr und die Menschen weniger. Eine Fotokamera mit Objektiv lässt trotz aller Übung den Schauspieler in uns Menschen erscheinen, beim einen mehr, beim anderen weniger, wobei Smartphones mit ihren kleinen Öffnungen es wesentlich einfacher haben.

Wir leben in Städten mit immer mehr Autos, deren Lichter zunehmend den Augen der Mangafiguren gleichen, Ungetüme mit weichem Kern.

Die Kinder lieben die Vermenschlichung dieser Blechkarossen, sehen die Augen im Disneycomicfilm und fühlen mit ihnen und wir alle verzeihen diesen Kulleraugen, dass sie uns die Freiheit nehmen, dass sie Krach machen, und jährlich viele tausend Menschenleben nehmen.

Es reichen also zwei Punkte, damit wir uns nicht zu sehr alleine fühlen.
Nicht umsonst trägt der Pirat die Augenklappe, nicht umsonst wird der Blick tief in die Augen als etwas hoch sensibles verhandelt.
Der Blick kann verletzen und binden, kann sogar töten, sagt man, Liebe entfachen wie die Köpfe eines Streichholzes, uns durchbohren, mindestens sagt er aber einfach dass wir da sind und dass es gut so ist.

Ein Auge ist Macht, zwei Augen ist Liebe, drei Augen ist Weisheit, vier Augen sehen mehr als zwei bei sechs Augen gibt es Streit...

Janus mit den zwei Köpfen hat deren zwei und Manchmal sogar vier.
Janus, der Gott der Übergänge und Brücken, Janus, der Gott der Türen und des Lichts, der Gott der Quellen, des Wandels und des Ursprungs. All das steht für die Augen, ihre Kraft und ihre Bedeutung.

In den Augen meint man Vergangenheit und Zukunft zu erkennen und irrt sich allzu oft.
Leere Augen sprechen für ein vertanes Leben und manchmal scheinen die Pupillen die Konsistenz von Streichhölzern zu haben und bei der kleinsten Reibung in Flammen aufzugehen.
Augen Können Verbinden und trennen, sie stehen für die Geburt, das Erwachen, den Tod und den Schlaf.

Der Tempel des Gottes Janus in Rom hatte seine Tore in Friedenszeiten geschlossen, war aber Krieg, blieben sie so lange geöffnet, bis die Soldaten zurückkehrten.
Ganze sieben mal in beinahe Tausend Jahren waren die Tore geschlossen. Die vielen Augen in Sebastian Bienieks Arbeiten strahlen einige dieser Aspekte aus. Wenn sie auch nicht im Krieg sind, schaffen sie es doch, den Spies umzudrehen. Das Bild scheint auch immer selbst zu schauen. Nicht nur in innerhalb der einzelnen Arbeiten seiner jeweiligen Serien, wie z. B. Duplicato, Doublefaced, Bi-Faced, Facination oder Tripplefaced, wo für jede Hinter- und Vordergrundebene ein Gesicht stellvertretend steht, sondern auch innerhalb seines Gesamtwerks taucht immer wieder dieses Thema auf.

Beispielsweise als er sich 2009 eine Burka tragend auf die Kunstmesse Artforum begibt.
Während er sich zum kunstinteressierten Publikum und den Verkaufsgesprächen dazugesellt bekommt dieses ein Spiegel vorgehalten in dem sich seine Unsicherheit spiegelt - vielleicht das eigentlich Abbild der Wirklichkeit, hinter einer vorgehaltenen Maske?

Die Vollkommene Verhüllung lässt keine Schlüsse zu (siehe Videos auf Youtube). Dabei wäre doch eine Burka, die in ihrer Einheitlichkeit des gezeigten Kunstwerken so viel mehr Raum geben könnte, das geeignete Kleidungsstück für eine Kunstmesse.

Video unten: "Burqa", 2009, Performance von S. Bieniek

auf der Art Forum, Kunstmesse

Die Reihen Neue Bären und Erdbären die mit wenigen Strichen und vor allem Punkten einen Bären darstellen, der doch immer in vielen verschiedenen Situationen und Stimmungen agiert.

Seine Bilderreihen und sonstigen Künstlerischen Tätigkeiten von denen ich einige im weiteren Text erwähnen werde sind so vielfältig, dass man manchmal das Gefühl hat, er allein ist der Goldene Faden der sich durch sein Werk zieht.

Immer wieder steht auf Fotografien seiner Gemälde Sebastian Bieniek selbst vor seinen Werken und propagiert wie es schon Robert Rauschenberg in seinem Telegramm ausdrückte „This Is a Portrait of Iris Clert If I Say So". Mit anderen Worten: "das ist Kunst und ich stehe dafür dass das Kunst ist. Wenn ihr denkt, dass das keine Kunst ist, dann dürft ihr das. Aber ihr seht es in meinen Augen, dass ich es sehr ernst meine. Ich sage euch, ich habe den längeren Atem." (und dass er diesen hat hat er schon wunderbar demonstriert in der performativen Installation. „Hier ruht mein Atem", bei der Bieniek einen grosse Raum mit Luftballons mit seinem Atem füllte. Ein Statement das er später in seine Schaffenskraft so beibehält (1998, "Hier Ruht Mein Atem", Museum der Charite Berlin).

Video unten: "Hier Ruhmt Mein Atem", 1998 (Museum der Charite),
Berlin, Dokumentaion des Ausstellungsaufbaus.

Seine Aussage „Ich versuche alles, was mir die Sicht versperrt als ein Ganzes zu sehen“ steht dafür jegliche neue Fragen in eine Form zu bringen bzw. für sie eine Serie zu erschaffen und aus dieser einer Problematik nachzugehen, oder eine Suche zu beginnen, und dabei jeden Abschnitt dieser Suche Wert zu schätzen, ernst zu nehmen und nicht etwa abzuhaken, sondern als Teil eines Körpers zu betrachten.

Auch später könnte man sagen, dass er Ballons mit seinem ästhetischen Atem füllt und in diesem Atem sind all seine Einflüsse, ist all der Wandel, das Leben, das Treiben in Berlin, das Aufwachsen seines Sohnes, die liebe zu den Frauen, zu den Menschen, seine Wut über ihm missfallenden Zustände, der Unglaube über die Lächerlichkeit, die Naivität des Seins "If I say so" so sieht uns dieser „Naive Wilde“ an, der schon in Jugendlichem fast kindlichem Alter die Vielschichtigkeit der Kultur kennen lernte, als seine Eltern von Polen nach Deutschland auswanderten. Noch vor dem Fall der Mauer wo er zunächst in einem Auffanglager mit vielen Menschen aus verschiedensten Teilen des Ostblocks und später in einem Dorf in Niedersachsen lebte.

In dem Auffanglager waren mehr Menschen aufgenommen worden als in dem eigentlichen Ort gelebt haben. Mit Sicherheit wurde ihm da, zwischen zwei Systemen, zwischen den Kulturen, früher als manchem anderen klar, dass viele Dinge nicht festgeschrieben sind. Sie sind nur so weil man sie so nennt und auch nur so lange man sie so nennt.

Das was beim Einem stimmt, muss lange nicht beim Anderen stimmen. So studierte er auch später Kunst bei drei Grössen der zeitgenössischen Kunst John Armleder, Marina Abramovic und Katharina Sieverding ohne sich von deren Charisma den Kopf verdrehen zu lassen. Ein anderer wäre sicherlich mit einer dieser Persönlichkeiten erfüllt gewesen, aber nicht er. Er der Getriebene, der sich alles ansieht und nicht aufhören kann noch einen Schritt weiter zu gehen.

Die Augen, dieselben Augen, mit dem selben Willen im Blick, wie die im vielleicht berühmtesten Selbstportrait Albrecht Dürers, hat er bei sich selbst entdeckt, so kann man es sagen, kann es auch Grössenwahnsinn nennen, wenn man sieht, dass er sich selbst als Dürer malt, wieder aber mit mehreren Gesichtern. Aber ihm Grössenwahnsinn zu unterstellen wäre Thema verfehlt, denn genau indem was er tut, tut Bieniek nichts anders wie schon seinerzeit Dürer, nämlich das Thema erkennen. Denn so wie sich Bieniek als Dürer malt, hat sich seinerzeit im selben Portrait Dürer als Jesus Christus gemalt und hatte deshalb mit erheblicher Kritik zu kämpfen.

Rechts "Triplefaced No. 1", 2014. Selbsportrait von Sebastian Bieniek. Links, 1500, Selbstportrait von Albrecht Dürer.

Natürlich mangelt es Bieniek nicht an Selbstvertrauen, wenn er immer wieder sich vor seinen Bildern, auf seinen Bildern, auf Facebook und in seinen Performances zeigt. Es geht um ihn, worum denn sonst? Es geht darum was der Künstler mit sich, mit der Welt ausmacht. Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich? Ich, ich, ich.

Genauso hört man auch den polnischen Schriftsteller Witold Gombrowicz rufen wenn man sich sein Schaffen ansieht: "Ich, ich, ich, ich, ich". Das Ich, das in Gombrowiczs Romanen mal als Erwachsener auftreten muss, dem aber auch die Kindlichkeit des Erwachsenseins klar ist und dann andersrum das Kindische, das es braucht, das jeder Erwachsene sucht, während er sich immer mehr in die Widersprüche der Vernunft verstrickt und aus denen er nur mit Hilfe seines anderes, des kindlichen Ichs wieder herzuzukommen vermag.

Und genau deshalb muss der Künstler auch ein Kind sein, das einzige Wesen das unschuldig und naiv genug ist und vor allem denkt um diese Gittern aus knallharter Realität aufzuweichen und durch sie anschließend - als wären sie aus Gummi - hindurchzuschlüpfen um auf die andere Seite, die der Phantasie zu gelangen.

Diese vielen Gesichter hat der Künstler immer dabei, das Kind, den alten Weisen, den Schamanen, den Schalk und den Geschäftsmann. Mindestens die letzen beiden muss er im Gepäck haben und SB vereint sie so perfekt, dass man manchmal gar nicht unterscheiden kann ob es sich nun gerade um Kunst oder Geschäft oder nur ein Spiel bei ihm handelt.


Wenn er z.B. seine 150.000 Facebook-Fans an der Entstehung seiner Werke teilhaben lässt, indem er vor ihnen posiert, oft in einer Pose, die den Dandy, den übertrieben befleckten Maler oder sonstwen karikiert, und dabei gleichzeitig seine Werke vorstellt als würde es sich um die Vorführung eines Gerätes handeln.

Er stellt sich immer dazu und sagt einerseits damit: "Schaut her, ich der Künstler habe ein neues Bild gemalt", andererseits scheint er einfach nur einen neuen Spielgefährten, das neue Bild, vorzustellen. "Seht her", scheint er zu sagen, dass ist "Facination No. 7" und das möchte jetzt auch mitspielen und "ich, ich, ich, ich" klingt dann wie das „Ich komme“ beim Versteckspiel, "jetzt beginnt das Spiel! Das Spiel in dem ich euch, mich und alles andere durch dieses Bild finden will und finden werde!" Das Spiel der Kunst in dem Bieniek nicht mehr und nicht weniger als der Spielmeister und Spielgefährte, Jäger und Gejagter, Kind und Erwachsener, Produzent und Konsument, alles in einem, ein geschlossener Kreis ist, aus dem und durch den er wie aus einer unerschöpflichen Kraftquelle schöpft, die mit jeder Drehung immer schneller und stärker wird.
Passend dazu dieser Blick voller Willensstärke, wie bei Dürer, der eben nicht nur sagt "nehmt das und geht damit um", sondern auch zeigt, woher es kommt, nämlich aus der eigenen Mitte.

Dürer selbst hatte mit seinen berühmten Portraits begonnen nachdem er durch den Erfolg seiner Drucke und Kupferstiche aufgeladen war mit Selbstbewusstsein. Er brachte mit der Art seiner Selbstportraits einen entscheidenden Beitrag zum Sprung der Kunst, nämlich des Portraits aus dem profanen Handwerk in eine geistige Metaebene. Damit wurde aus dem technischen Abbilden der menschen Physis eine intellektuelle Auseinandersetzung mit seinem Geist und damit eine Revolution, die nicht durch das Bild sondern durch die Haltung des Künstlers vollzogen wurde.

Mit seinen Selbstportraits postulierte Dürer dieses "Ich", welches für diese intellektuelle Auseinandersetzung notwendig ist. (Hierzu kann das Foto auf dem Bieniek sich selbst Malewitschs "Schwarzes Quadrat" auf dem Gesicht gemalt und es fotografiert hatte als Gegenstück gewertet werden)

"Secondfaced Nr. 1", Sebastian Bieniek, 2012. Selbstportrait mit einem schwarzen Quadrat auf dem Gesicht.

Das Bild selbst rückt immer mehr in den Vordergrund vor dem was auf ihm abgebildet wurde und legt damit einen langen Weg hin, bis Robert Rauschenberg sein Telegramm schon als Portrait bezeichnen konnte - durch den puren Beisatz „If I say so“ -, oder Magritte, der schon vorher manifestierte dass das Bild einer Pfeife keine Pfeife, sondern lediglich das "Bild einer Pfeife" ist.

All das ist in unsere Alltagskultur bereits eingegangen, wird gar nicht erst hinterfragt und ist manchmal sogar unvorstellbar dass es nicht schon immer so gesehen wurde, wie es jetzt gesehen wird.

Seit den 60ern ist es nun vollkommen vorbei mit dem Glauben an die Erfassung des Menschen durch ein Abbild seine Physis. In den 90ern und 2000ern wurde immer mehr das unseelische des Gesichts dargestellt.

Fotografen wie Thomas Ruff fotografierten Frontalprofile wie kalte Oberflächen, denen trotz klarer namentlicher Nennung oder gar deswegen umso mehr keine wirkliche Individualität, kein spezifischer Charakter mehr zuzuschreiben war. Man konnte den Menschen nicht mehr durch sein Äusseres erfassen und musste neue Wege gehen. Mimik alleine war durchschaut. All der Training um den Lügendetektor zu überlisten, oder wenigstens Versuche beim Vorstellungsgespräch gut da zu stehen, zeigten auf, dass Mimik aus vielen verschiedenen Einzelmasken zusammengesetzt zu sein schien, und weder dem Schauspieler im Film noch dem unbewegtem Bild zu trauen war.

Cindy Sherman füllte und füllt Kataloge mit Gesichtern hinter denen doch immer nur sie steckte und keine weitere Geschichte zu erwarten war außer der die man selbst projizierte. Und schliesslich Facebook, zu allererst eben ein Buch der Gesichter von Collage-Studenten programmiert um den Profilausschnitt des Körpers weiblicher Studentinnen stellvertretend bewerten zu können.

Während sich das Profilbild aus den Jobbewerbungen verabschiedete, schlich es in das alltägliche Leben ein. Die massenhafte Vervielfältigung der Bilder führt aber im Grunde nur dazu, dass diese mehr und mehr an emotionalen Wert verlieren. Was wir in einem normalen Passfoto sehen ist eben nicht viel mehr als eben Profil. Es bleibt oberflächlich. Der Mensch als Ebenbild Gottes? Ausgedient. Das Bild hat seine Aura verloren oder eben Gott, oder Gott im Bild oder das Bild in Gott. Im Jahrhundert des Gesichts ist dieses selbst kaum etwas mehr Wert. Andere Daten haben es längst als Erkennung abgelöst, es kann einfach nach belieben ummodeliert werden und ist nicht mehr zwingend der Träger einer Geschichte.

Das Portrait verliert an Stärke, je mehr der einzelne Mensch an Freiheit gewinnt. Bei der oben schon genannten Performance von Bieniek auf der Artforum Berlin kann man diese Kraft spüren, die von der Gesichtslosigkeit ausgeht. Das Gesicht steht längst nicht mehr für Ehrlichkeit und dafür standfest zu sein, sondern es werden in ihm vielmehr all diese Masken vermutet, die eine Gesellschaft spalten können. Das Individuum, übersetzt das Unteilbare, ist teilbar geworden wie z. B. Cindy Sherman-Fotografien auf den Seiten ihres Kataloges. Auf jeder dieser Seite ist die selbe und gleichzeitig eine andere Person, eine andere Maske und jede dieser Masken bedeutet nicht mehr und nicht weniger als nichts.

Der Mensch scheint hinter seinen Bildern zu verschwinden, inflationär produziert er immer neue Varianten mit minimalen Änderungen und droht darunter zu versinken. Während wir noch großschnäuzig vom surfen reden, sind wir längst überspült und selbst zum Bild geworden. Wir arbeiten ständig an unserem Selbstbild. Das Bild verflüssigt sich in der Möglichkeit der Zuweisung, wie es auch der Mensch tut.
Interpretation und damit Information verkleinert sich, bis wir in einer Flut daraus schwimmen und tauchen. Am Ende bleiben die schwarzen Punkte.

Ein Baby heisst es, ist auf diese Punkte angewiesen. Zwei Punkte in einer Ebene. Augen – Brust. Ein Baby heisst es, aber wer nur einmal diese Punkte, in einem Chat mit einer Person die ihm wichtig ist, genutzt hat um einen Smiley damit darzustellen, weiss um die Durchschlagskraft die diese immer noch auf uns Erwachsene haben.

Sebastian Bieniek gibt seinen Bildern, ob nun selbst gemalt, Fotografiert oder gekauft (ich werde darauf zurückkommen) nun mehr Gesichter als eines. Das eigentliche Gesicht scheint sogar im Hintergrund zu verweilen und auch wenn er das Bild komplett selbst gemalt hat, wirkt das einfache schemenhafte Gesicht immer wie aufgemalt und gleichermassen von unten kommend, als ob sich die Grundierung und damit das Bild selbst zu Wort melden Würde. Auch wenn eben sofort Bewusst ist, das SB den Pinsel im Nachhinein angesetzt hat scheinen diese einfach strukturierten Visagen eine deutlichere Präsenz zu erzeugen als die lebensechten Malereien darunter oder gar als die wirklich echten Gesichter auf den Fotos die wie eben erörtert ihre Tragfähigkeit verloren haben. Ihre Oberflächen werden Porös und was darunter liegt offenbar. Es ist der einfache Geist.

Im Film der Exorzist ist es der Teufel der von der 12jährigen Regan MacNeil Besitz ergreift. In einer Szene meldet ihre Seele sich durch die Worte „Help me“ die auf dem Bauch des Mädchens erscheinen. Es steckt also doch noch diese Seele in diesem vollkommen nicht wieder erkennbaren Mädchen. Auch wenn wenn die Bilder bei Sebastian Bieniek nicht zu leiden scheinen ist es doch ein ähnlicher Weg, den der Grund des Bildes an die Oberfläche geht um sich zu befreien und sich damit zu retten.

Es sind Erscheinungen denen die Oberfläche wohl gesonnen ist, die aus sich häutenden Oberflächen bestehen und dadurch Tiefe gewinnen. Auf einigen Bildern nimmt das Bildwesen das abgebildete portraitierte Wesen in den Arm, streichelt es, berührt es, geht sogar frech in den Ausschnitt wie um ihm seine Sensibilität, sein Vorhandensein ganz direkt - direkter geht's nicht - aufzuzeigen.

Die Hand, die von innen heraus greift macht deutlich, dass es ein Akt ist, ein unter die Bildschichtgehen wie Unterdiehautgehen, der auch den Betrachter in eine neue Situation bringt.

So wie er auch von vielen Augen beobachtet zu werden scheint - teilweise misstrauisch aber vor allem siegessicher selbstbewusst - scheinen die Ebenen bereits vollkommen ineinander integriert und auf alles gefasst.

Der Betrachter wird ein Außenstehender, ein die Situation beobachtender Mensch, der das Geschehen betrachten, sich aber auch selbst schnell als Betrachteten sehen kann und damit zum Beobachter seiner selbst. Ihm wird also - wie so oft in Bienieks Arbeiten - ein Spiegel vorgehalten. Vielleicht um sich selbst zu erkennen, vielleicht um das Bild zu erkennen, oder ist vielleicht beides ein und das selbe?

Im Bild "Facination No. 7" sieht man Zwillinge im gleichen Kleid. Der ursprüngliche Kopf ist vollkommen im Hintergrund verschwunden und zwei neue sich exakt gleichende Mischwesen sind einer Zellteilung ähnlich entstanden. Wie die gespaltene DNA nach der Zellteilung sich in zwei Kopien ihrer selbst teilt um ihre ursprüngliche Form wieder herzustellen, zieht bei dem Zwitterwesen ein neues Augenpaar einen neuen dazugehörigen Körper nach sich, oder besser gesagt der ursprüngliche Körper hat sich nunmehr - wie die Zelle - in zwei gleiche Körper geteilt.

“Facination Nr. 7” von Sebastian Bieniek 2014. Übermaltes Original-Gemälde (Öl auf Leinwand) von 1940. 50 cm. x 40 cm.

Ihr Blick scheint zu fragen „Was guckst Du?“, als ob die Frage was denn da eben - mit ihr auf dem Bild - passiert ist nicht berechtigt sei. Alle diese Abbilder gehen ihre Metamorphose zu Bildwesen in einer Selbstverständlichkeit ein, die den Betrachter ratlos außenstehend zurücklässt. Der Betrachter ist definitiv in der Unterzahl (da man in der Kunstbetrachtung immer alleine ist, auch wenn man zu zehnt vor dem Bild steht). Er muss sich beim betrachten der Bilder in eine Beziehung einmischen die in ihrer wortlosen Sturheit und Eingefahrenheit den Außenstehenden als Eindringling entlarvt. Dass es sogar bei zwei Bildern dazu kommt, dass die Hände in den Ausschnitt rutschen wirkt wie ein Wink. Ein freches Zeichen an den Rezipienten, dass da etwas vorgeht, bei dem er nicht mit von der Partie sein kann. Es findet ein Eigenleben in den Bildern statt, dass nicht der gezeigten Handlung entspricht, sondern aus dem Zusammenspiel von Bild und abgebildetem entspringt.

So kann man sich leicht bei Sebastian Bieniek die Leinwand als Lebewesen vorstellen, als weiteren Spielkameraden, der in die Runde gebracht wird, den er uns vorstellt und mit dem er uns mitzuspielen einlädt. Gleichzeitig bringt das Bild das Gleichgewicht durcheinander und damit eine neue Spannung, denn es stellt alles Hergebrachte in Frage, und lässt sich trotzdem damit nicht von seinem Drang nach Spiel und Teilhabe ablenken.

Wie lebendig Bienieks Bilder werden können hat er ja nicht zuletzt selbst in seinen vielen Performances gezeigt und natürlich mit seinem berühmt gewordenen Face-Paint Serien (Seondfaced, Bi-Faced, Doublefaced) in denen er echten Menschen Gesichter auf ihre Gesichter malte, die wie bei den vorher genannten Zwillingen aus einem echten Auge und einem dazugemalten entstehen.

Bieniek hatte diesen Effekt zuerst bei seinem Sohn Bela entdeckt, um den - als er schmollte da er krank war - aufzuheitern, er ein lächelndes Antlitz auf die Wange malte. Das falsche Gesicht fand der Sohn lustig worauf sich auch seine Laune hob. Das menschliche Antlitz als „Leinwand“ trat in Interaktion mit dem drauf gemalten Bild und das Bild trat andersrum mit Interaktion mit dem was es darstellte. So, als würde die gemalte Pfeife von Magritte in Interaktion mit einer echten Pfeife treten und die Laune dieser (falls sie welche hätte) verändern.

"Doublefaced Nr. 1" von Sebastian Bieniek, 2013. Aus der Foto-Serie "Doublefaced 2013"

Das was in der Realität nicht geht das kann man gerade bei Kindern als eine Symbiose von Phantasiewesen/Welten und Normalwesen/Realwelten noch in der selbst geglaubten Wirklichkeitsvorstellung und im Spiel wunderbar beobachten. Mit dem Erwachsenwerden geht diese Gabe meist verloren.

Das aufgemalte Gesicht wirkt verletzlicher als das echte, da es ja auch wirklich leicht zu entfernen und wahrscheinlich während des Betrachtens schon nicht mehr da ist. Das aufgemalte ist fragil und deshalb lebendig.

Das Unechte wirkt damit lebendiger als das Echte. Das durch die Hand des Künstlers gebildete Gesicht spricht selbst. Die Kunst spricht und sagt aus, während der abgebildete Mensch nicht die gleiche Präsenz bieten kann wie das vom Künstler gebildete. Hier steckt also eine wichtige Aussage. Erst die Nachbildung, erst der Eingriff des Künstler verschafft der Fotografie Präsenz. Eine Manipulation und nicht etwa deren Vermeidung lässt das Gesamtbild lebendiger um nicht zu sagen echter werden.

So wie Bieniek die Gesichter seiner Foto-Models übermalte - bevor er sie fotografierte -. übermalte er auch schon vorhandene - auf dem Flohmarkt gekaufte Fotografien - und machte Sie zum Teil der Facination-Serie, die in der Ausstellung zu sehen ist. Die Fotos variieren stark, was die Entstehungszeit und Grösse betrifft. Alleine die Tatsache, dass sie schwarz-weiß sind haben sie gemein.

Wenn Gerhard Richter Fotos übermalte, so machte er es um ihnen die Aura des Unikats wieder zu geben, der Anmassung der Fotografie etwas entgegen zu setzen, was sein gesamtes Werk auszeichnet und nebenbei kleine und leicht verkaufbare Spuren von sich zu hinterlassen.

Ende der 50er Jahre begann der Österreicher Arnulf Rainer ihm zur Verfügung gestellten Werken anderer Künstler monochrom zu übermalen. Er übermalte auch ungefragt Bilder anderer Künstler, wofür er auch verurteilt wurde um dann zu guter letzt selbst Opfer einer wahrhaftig flächendeckenden Übermalung seiner - nach eigenen Angaben - besten Bilder zu werden.
Bis heute ist unklar ob er selbst dafür verantwortlich war oder einem Anschlag zum Opfer fiel. Seine Übermalungen und auch seine bemalten Selbstportraitsfotografien „Face Farces“ ergeben seine größte Werkgruppe. Ihm war es vor allem ein Anliegen „Zu Zerstören die Götzen der Jahrtausende, ein Weg der unermüdlichen Befreiung von einer Tradition, die die zweitälteste ist.”

Auch wenn man heute weiss, dass selbst an vielen berühmten Gemälden meistens nur noch wenig der Orginalfarbe des Künstlers ist und einige Bilder über die Jahrhunderte auch dem Zeitgeist und Geschmack der Restaurier ausgesetzt waren und das selbst Maler wie Van Gogh und viele andere ihre eigenen Bilder übermalten, teils aus Geldnot, wie auch aus Missbilligung des vorherigen Werkes, galt die mutwillige Übermalung in den 60ern noch als ein Akt der Zerstörung.
Interessant ist hierbei auch der Vorfall des Freskos in Borja bei Saragossa, dass erst durch den Versuch der eigenhändigen Restaurierung und deren Scheitern eine weltweite Berühmtheit erlangte womit das Bild - wäre es verkäuflich - gerade durch die Zerstörung zu einer Berühmtheit wurde und damit an Wert gewann, und das obwohl eigentlich nichts mehr von dem, was davor war, mehr sichtbar war. Eine Neuübermalung, die dem ursprünglichen Bild näher käme wurde nicht in Erwägung gezogen. Wohl aber das „verschandelte“ Original hängen zu lassen und davor ein Foto von seinem vorherigen Zustand zu platzieren.

Während also Gerhard Richter vor allem von der Fotografie Beleidigung und Antrieb erfuhr und Arnulf Rainer der Kunstgeschichte eine Befreiung aus dem Joch der Geschichte suchte, gibt Bieniek seinen Bildern mit seinen Bemalungen einen Partner und rettet gleichermassen aus dem Drama der schwindenden Repräsentation.

Sebastian Bieniek geht es weniger um die Frage nach dem Material oder der Technik als um das Leben, dass in den Dingen steckt und aus dem Material hervorschießt, nicht umsonst malte er 2015 eine Textarbeit die aus dem Satz "Dead Matter Lives" (die Tote Materie lebt) bestand. Auch hier steckt hinter dem Bild, der Aussage, noch mehr als man auf den ersten Blick vermuten würde. Bieniek meint es wortwörtlich und somit bedeutet trennenden Ebenen wieder zusammenzuführen aus seinen Lippen oder besser gesagt Pinsel mehr als nur eine Floskel oder ein Bild. Seine Arbeit ist auch immer Teil eins Gesamtprogramms. Bieniek ist kein Künstler im herkömmlichen Sinne, sondern auch eine Janusfigur, die im weitesten Sinne die Wege und Übergänge zwischen den Disziplinen für sich in Anspruch nimmt indem er diesen seine gesamte Aufmerksamkeit widmet und in diesen geradezu Zuhause ist.

Auch hierfür hat er zwei bezeichnende Performances gemacht, beide in sehr jungen Jahren, indem er z. B. 1999 in einem grossen Trog mit Hackfleisch 3 Tage lang lag ("Born To Be Bulette", Kunsthaus Tacheles Berlin, 1999).
Das wahre Leben; er selbst umgeben von dem Material aus dem Leben gemacht ist.

"Born To Be Boulette", Performance von Sebastian Bieniek. 1999, Kunsthaus Tacheles, Berlin.

Beim anderen Mal steckte er in einer weissen Säule, wie man sie als Sockel oder Raumteiler aus Ausstellungen kennt und ließ nur die Aussenseite seines Armes hervorscheinen. In diesen wurde dann an jedem Tag der Ausstellung mit einer Rasierklinge hineingeschnitten, so dass eine Wunde klaffte und das Blut bis zum Ausstellungsboden tropfte. 16 Tage lang wiederholte er dies. ("Hand Without A Body", 1999 III Festival der jungen experimentellen Kunst, Berlin).

"Hand Without A Body", Performance von Sebastian Bieniek. "III Pestival der Jungen Experimentellen Kunst", Postfuhramt, Berlin.

In dem Bild steckt Leben scheint er uns zu sagen und fordert gleichermassen andere dazu auf mit deren Mitteln das Leben aus dem Material und gemeinsam mit dem Material hervorzuheben, um damit dem was man Persönlichkeit nennt ein Gesicht zu geben.

Dies haben auch viele seiner Fans getan. Es gibt eigens Sammlungen von durch Sebastian Bieniek inspirierten Arbeiten, die er auch immer wieder veröffentlicht. Zuletzt hatte „Happy“ Sänger Pharell Williams in einem Video Gebrauch von der einfachen aber wunderbar durchschlagkräftigen Idee von Doublefaced gemacht. Die Namen der Bilder sind dabei einerlei. Ihm geht es um Studien, die er in Reihen anfertigt um den Fortschritt einer bestimmten Fragestellung zu sehen. Hierbei ist aber Fortschritt nicht der dümmlich quälende Fortschritt der Politik, der alles gewesene negiert, sondern das Wachsen eines Körpers bei dem jedes einzelne Teil seine Wichtigkeit hat und auch weiterhin haben soll. Deshalb kann man durchaus sagen: Sebastian Bieniek übermalt ohne zu übermalen.

Die Bilder sind eindeutig gestellt und doch ist es klar, dass sich da etwas Echtes abspielte, dass kein Studio eine Situation darstellen sollte und dass da irgendwann - irgendwie ganz organisch und ganz natürlich - eine junge Frau mit zwei Gesichtern bemalt in der berliner U-Bahn inmitten ganz normaler Fahrgäste mitfuhr.

"Doublefaced Nr. 21", von Sebastian Bieniek. 2013, aus der Serie "Doublefaced 2013".

Dieser dokumentarische Charakter, bei dem Bieniek mal Familienmitglieder und ihm Nahestehende, dann wieder ein Model und dann wieder deren Bekannten mit ins Boot holt, zeigt, wie Kunst und Leben, Arbeit und Privates bei ihm verschwimmen, wie seine Werke eben auch Teil einer Dokumentation über ihn selbst sind und gleichzeitig wie Freunde, Familienmitglieder und Mitarbeiter im Einklang nebeneinander und als ein gesamtes Ganzes existieren können, denn Bieniek tut nichts anders als das was er vorfindet miteinander zu verbinden. Seine Werke sind entlang seines eigenen Lebens gestrickt und der Rote Faden heißt "Ich", was sonst? Bieniek bebildert was er kennt und was ihm nahe ist, deshalb die Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit. Es sind Personen und Konstellationen über die er erzählt, weil er über sie erzählen kann.

Die Kunst war für Bieniek nie nur Broterwerb, was lächerlich klingen mag, weil man dem Künstler immer nachsagt, dass er es nie nur als Broterwerb machen würde und es wäre auch naiv eine solche Laufbahn nur aus diesem Grund einzuschlagen, doch stellt sich gerade bei vielen erfolgreicheren Künstlern und aufgrund der universitären Lehre, die dazu auffordert, ein erfolgsbedingtes Arbeiten ein, dass sich um klare Aussagen, das Material betreffend winden und nicht zuletzt das Vernetzen innerhalb des vorhandenen etablierten Netzwerks als ein der Grundsäulen des Erfolgs propagiert, und so findet sich ein Künstler schnell dabei wieder einfach nur den Markt zu bedienen, indem er die für den Markt stellvertretenden Künstler, deren Arbeit und deren Nähe nachstrebt (Jeff Koons vs. Anselm Reyle z. B.).

Mit SB wäre das nicht zu machen. Zu vielfältig ist sein Werk und er selbst meint es wäre ihm nicht angenehm jeden Tag mit den gleichen Lebensmitteln zu kochen. Und dennoch kann man an seiner Art zu kochen, einen Geschmack erkennen. Und die Vorliebe für Dinge, die er in seinen Werkgruppen entdeckt hat und uns empfiehlt sie nachzukochen oder zu probieren.

Kalle von Karl, 05.03.2015 (aus dem Katalog anlässlich der Ausstellung "Facination" in Madrid/2015)

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